Dr. Gero Hocker

Potenzial europäischer und deutscher Landwirtschaft nutzen

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verursacht großes Leid bei der einheimischen Bevölkerung. Dadurch entstehen unmittelbar große Herausforderungen wie die Aufnahme flüchtender Menschen und die Versorgung der Menschen in der Ukraine mit Lebensmitteln, bei deren Bewältigung wir als reiches Industrieland nach Kräften helfen müssen und dies durch staatliche und nicht zuletzt enorme private Anstrengungen der Bevölkerung auch tun. Auch auf uns in Deutschland selbst hat der Krieg Auswirkungen. Schnell war klar, dass wir von russischen Energielieferungen in Form von Gas und Öl baldmöglich unabhängig werden und die falschen energiepolitischen Entscheidungen der Vergangenheit korrigieren müssen, durch die Deutschland erst in die jetzige Abhängigkeit geraten ist.

 

Auch im Bereich der Nahrungsmittelversorgung sind in den Supermärkten durch Hamsterkäufe verursachte erste Folgen wie erhöhte Preise und leere Regale etwa bei Speiseölen erkennbar. Lebensmittelknappheiten in drastischem Ausmaß sind bei uns in Deutschland allerdings nicht zu erwarten. Deutschland und die EU haben bei wichtigen Produkten wie Weizen einen hohen Selbstversorgungsgrad. Bei anziehenden Preisen spüren die meisten Menschen dies nicht unmittelbar im Portemonnaie. Der Durchschnitt der Bundesbürger gibt einen vergleichsweise kleinen Anteil seines verfügbaren Einkommens für Lebensmittel aus und zur Unterstützung der Einkommensschwächeren hat die Bundesregierung bereits Maßnahmen auf den Weg gebracht. Dramatische Auswirkungen knapper werdender Lebensmittel sind allerdings in Entwicklungs- und Schwellenländern zu erwarten, die auf den Import von Grundnahrungsmitteln wie Getreide dringend angewiesen sind und sich steigende Preise an den Weltmärkten nicht leisten können. In den ärmsten Regionen der Welt zeichnen sich deshalb schon jetzt Engpässe und potentiell Hungerkatastrophen ab.

 

Die von der Europäischen Union beschlossenen Maßnahmen zur Erhöhung der Produktionskapazitäten der Landwirtschaft gehen deshalb in die richtige Richtung. Wir können zwar mit unserer Agrarproduktion die Welt nicht ernähren, dürfen aber auch nicht verhindern, dass der landwirtschaftliche Gunststandort EU seinen Teil dazu beiträgt. Erste Maßnahmen hat das Landwirtschaftsministerium deshalb schon national umgesetzt, etwa die Freigabe des Aufwuchses auf ökologischen Vorrangflächen wie Brachen und Zwischenfrüchten zur Futternutzung. Damit kann ein Beitrag zur Versorgung unserer Nutztiere geleistet werden. In der vergangen Woche hat die Agrarministerkonferenz über die Umsetzung der weiteren EU-Maßnahmen beraten. Im Agrarausschuss des Bundesrates gibt es eine Mehrheit der Bundesländer, die eine vollständige Freigabe von als Brache stillgelegten ökologischen Vorrangflächen für den Anbau von Sommerkulturen wie Mais inklusive dem Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln fordern. Darüber berät am Freitag dieser Woche der Bundesrat. Dieser muss dem Votum seines Agrarausschusses folgen, damit auch Deutschland seinen möglichen Beitrag zur weltweiten Nahrungsmittelversorgung in der aktuellen Krisensituation leisten kann. Außerdem brauchen die Landwirte nun dringend Planungssicherheit für die bei vielen Kulturen schon laufende beziehungsweise kurz bevorstehende Frühjahrsaussaat.

 

Darüber hinaus muss die EU jetzt auch die Entscheidung treffen, ob die ab dem kommenden Jahr im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik für jeden Landwirt geltende Verpflichtung, Flächen im Umfang von vier Prozent stillzulegen, aufgehoben wird. In der derzeitigen Krisensituation, die absehbar zu mehr Hungerleidenden in der Welt führen wird, ist es schlicht nicht hinzunehmen, dass wir als Wohlstandsgesellschaft unsere wertvollen Ackerböden einfach sich selbst überlassen und nicht für die Produktion von dringend benötigten Nahrungsmitteln nutzen. Die EU muss deshalb auch in dieser Frage, wie bei der vollständigen Freigabe der ökologischen Vorrangflächen zur Ackernutzung in diesem Jahr, nicht zuletzt im Sinne der Ärmsten weltweit den richtigen Weg gehen und das Produktionspotenzial der europäischen Landwirtschaft freisetzen.